Alexithymie oder Gefühlsblindheit

Alexithymie oder Gefühlsblindheit

Immerhin soll es 10% der deutschen Bevölkerung schwer fallen, Gefühle zu erkennen und zwar sowohl die eigenen als auch die der anderen Menschen. Sie werden daher auch als gefühlsblind bzw. als „Gefühlsanalphabeten“ bezeichnet. Studien fanden heraus, dass mehr Männer das Persönlichkeitsmerkmal : Alexithymie zeigen als Frauen. Alexithyme Menschen können ihre inneren Zustände nur schwer einer emotionalen Befindlichkeit zuordnen wie : Freude und Trauer, Wut, Angst oder Ärger und das bei einem ausgeprägt logisch funktionierenden, und oft technischem Verstand. Entsprechend wurde auch die Neigungs-und Berufswahl priorisiert.

 

 

Alexithymie im Alltag.

Im Beziehungsalltag wirken alexithyme Menschen meist neutral, sehr wenig bewegt, angepasst, überlegt und selten gestresst. In Berufen wo Coolness bei Belastungen eher ein Vorteil ist, sind diese Menschen entsprechend gut aufgehoben, während zwischenmenschliche Aspekte dabei eher auf der Strecke bleiben.

 

Die fehlende emotionale Einordnung, also Alexithymie, zeigt sich typischerweise besonders stressig  auf der Paarebene, aber natürlich auch im Berufsalltag. Denn es ist schon recht problematisch einen Kollegen oder eine Kollegin oder einen Chef oder auch Chefin nicht richtig emotional einschätzen zu können, weil diese sich praktisch nie “ in die Karten schauen lassen“ und wenig Emotionalität durchdringen lassen oder zeigen.

 

 

Ein oft gezeigter Gleichmut bis Unbewegtheit, manchmal auch eine Art Stoizissmus, lassen einen gefühlsblinden Menschen oft sehr belastbar wirken, emotional lässt er jedoch wenig Interpretationsfreiraum zu, was den Anderen auch irritiert und verunsichern kann. So richtig kann manchmal keiner erkennen , ob der oder die Betroffene nun froh ist, unzufrieden oder vielleicht doch recht sauer oder gar wütend oder mal ironisch reagiert hat. „Nicht Fisch, nicht Fleisch.“

 

 

Negativ ausgedrückt gelten alexithyme Menschen als verkopft, häufig als Pokerface, wirken extrem verschlossen und oft dadurch unzugänglich. Nicht selten wird dies mit Autismus bzw. Asperger in eine Topf geworfen und manchmal scheint es auch schwierig voneinander abgrenzbar, ebenso wie eine schizoid verstärkende Charakterstruktur.   

 

 

Was der durchscnnittliche Mensch auf einen Blick emotional erkennt, wird für einen gefühlsblinden Menschen zur mühsamen Tortur. Eine Depression kann schnell hier zum Begleiter werden und ebenfalls nicht zum emotionalen Ausdruck gebracht werden. „Bin nur mies drauf „, trifft es eben nicht.

 

 

Unzureichende  Wahrnehmung des eigenen Körperempfindens und deren emotionale Benennung.

Manchmal gehen schwer alexithyme Menschen zum Mediziner, weil sie sich unangenehme Körperempfindungen nicht erklären und vor allem nur unzureichend emotional ausdrücken können, wie das für sie ist, wenn der Magen drückt, der Rücken fast zusammenbricht, das Herz wie wild klopft und die Haut wund gekratzt ist. Es muss schon so richtig schlimm kommen, ehe ein alexithymer Mensch auf seinen Körper hört. Das ist durchaus ein großes Defizit !

 

Ein schwerwiegend gefühlsblinder Mensch kann im schlimmsten Fall einen roten Kopf haben, die Fäuste ballen, aber seine Wut nicht so recht rauslassen und die Wut auch nicht benennen.Vielleicht wird er eher sagen: “ Ich merke, da passiert gerade was in meinem Körper, habe aber keinerlei Ahnung was es ist. Ich analysiere mal ganz rational, es könnte dies oder das sein „, oder laut „Dr. Wikipedia“ vielleicht auch das, oder aufgrund früherer Erfahrung könnte es auch das sein, aber wissen tue ich es nicht so genau. Und ich weiß auch nicht, was es jetzt emotional für mich gerade bedeutet, also dieses oder jenes Symptom zu haben, oder wie sich das auf meine Gestimmtheit auswirkt oder was meine Anspannung jetzt eigentlich ausmacht, oder wie es sich vielleicht auch partnerschaftlich auswirken könnte, denn all das kann ich jetzt nicht so recht sagen, sondern nur vermuten „.

 

Zudem kann auch eine deutliche Schmerzempfindungs-Reduktion die Wahrnehmungen  eines schwer gefühlsblinden Menschen einschränken. Angstgefühle werden ebenfalls stark unterdrückt bzw. verdrängt. Erst wenn es wirklich nicht mehr geht, reagiert ein alexithymer Mensch, nimmt eine Tablette, geht mal zum Arzt oder spricht es vielleicht mal aus.

 

Alexithymie  kann ein wenig mit der typischen Rot-Grün-Farbenschwäche oder Melodietaubheit verglichen werden. Ein Mensch mit einer Melodietaubheit versteht nicht, was an Musik schön sein soll und kann sich auch nicht tanzend danach bewegen, da er die Töne gar nicht als solche als Melodie wahrnimmt. Und ein Gefühlsblinder versteht seine eigenen Gefühle genauso wenig wie die anderer Menschen.

 

Verringerte Mimik in Covid19-Zeiten durch die Mund-Nasenschutz- Maske.

Ohne Frage ist unsere Kommunikation mit Mundschutzmasken problematisch, weil nicht nur die Stimme verfremdet und gedämpft klingt, sie oft unverständlich klingen läßt, sondern auch die Mimik des Menschen nur schwer einschätzbar ist.

 

Wir sind derzeit wohl alle ein wenig gefühlsblinder als vor der Corona-Krise.

Wir nehmen Gesichter grundsätzlich ganzheitlich auf. Wird ein Teil durch die Maske weggenommen, ist die emotionale Einschätzung deutlich erschwert. Wir können zwar hinter der Maske die Augenbrauen heben und die Stirne runzeln, und versuchen mit den Augen- durch deren Eng- oder Weitstellung –  unsere Gefühle zu signalisieren, aber unser Mund fehlt, ist hinter der Maske verdeckt und nur unsere Augen bleiben frei. Und so agieren wir alle in dieser Corona- Krise – durch den unumgänglichen Maskenschutz – etwas gefühlsblinder und es geht uns nun ähnlich wie es einem alexithymen Menschen häufig geht: Wir können eigene Emotionen nur schwer herüberbringen und die anderer Menschen hinter ihren Masken ebenfalls nur erschwert deuten.

 

 

Umso deutlicher muss die Artikulation der Sprache sein, um Mimiklücken wenigstens etwas auszufüllen. Erwachsene können sich sicherlich sprachlich besser ausdrücken als Kinder und müssen nicht versuchen mit Maske traurig oder überfordert zu schauen. Kinder benötigen aber ihren gesamten Gesichtsausdruck mehr als die Großen,  weil sie zudem nur schwerer beschreiben können, was ihnen hinter ihrer Maske fehl und sie bedrückt.

 

 

Kulturübergreifend gibt es sieben Basisemotionen : Freude, Wut, Ekel, Angst, Überraschung, Neugier,Trauer.

 

 

Trauer, Freude oder auch Neugier sind zwar als primäre Gefühle im Repertoire der mimischen Gesichtsausdrücke angeboren. Tatsächlich ist es aber so, dass ein Kind viele Male von seinem Gegenüber gespiegelt bekommen muss, was seine Empfindung eigentlich bedeutet, ehe es sagen kann : “ Jetzt habe ich Angst.“ Die sieben Basisemotionen sind genetisch bedingt, und werden bei allen Menschen in gleicher Weise im Gesichtsausdruck erkannt.

 

 

 

 

Kleine Menschen schauen zum frühen Lernen und Erkennen in die Gesichter ihrer Eltern als erste Modelle. Ganz allmählich lernt das Baby und Kleinkind dabei zum Beispiel Verknüpfungen vom eigenen Weh und Aua im Bauch, den Tränen und dem besorgten Ausruf: „Hast Du Aua?“ zu machen. Das Kleine lernt also körperliche eigene Empfindungen zu deuten und schliesslich mit Angst oder Freude zu verknüpfen. Es werden die Grundlagen der emotionalen intelligenz gelegt.

 

 

Die emotionale Intelligenz entwickelt sich im limbischen System des Gehirns, welches für Gefühle zuständig ist, aber auch der Frontalcortex wird angeregt, der für die spätere intellektuelle, rationale Kategorisierung, Überlegung, Sprache, Zielgerichtetheit und Entscheidungsfähigkeit zuständig ist.

 

 

Soziale Intelligenz und die Alexithymie.

Unter Sozialer Intelligenz versteht man fünf Fähigkeiten und damit Ebenen. Die erste ist die Selbstreflexion, also das Wissen um eigene Stärken und Schwächen, aber auch um die Wirkung auf andere Menschen und ein Bewusstsein über die eigenen Gefühle, Stimmungen und die Konsequenzen für das eigene Verhalten und Handeln. Ein gefühlsblinder Mensch hat Probleme sich emotional wahrzunehmen. Entsprechend schwierig ist es für ihn gefühlsangepasst zu handeln.

 

 

Als zweite Fähigkeit ist die Selbstkontrolle sehr wichtig. Mangelhafte Impulkskontrolle ist auch immer ein Hinweis auf eine Störung im Emotionsmanagement. ( Kann ein Diagnose- Hinweis auf eine Borderline-Erkrankung sein ).

Nachdenken, dann Handeln bringt die impulsiven Gefühle in einen geordneten Ausdruck. Selbstkontrollierte Menschen sind in der Lage ihre impulsiven Gefühle angemessen zu regulieren. Diese Ebene bedient ein alexithymer Mensch i.d.R. zu gut, da Spontanität und Impulsivität nicht sein Ding sind, sondern eher Kontrolle von Situationen, welche Gefühlsentscheidungen beinhalten und damit verunsichern und überfordern.

Die Motivation ist an dritter Stelle hier zu nennen, aber komplexer zu erklären. Externe Faktoren beeinfliussen natürlich auch unsere Motivation um unsere Ziele zu erreichen, z.B. mehr Geld und Ansehen. Eine innere Motivation ( intrinsischer Antrieb ) ohne äussere Anreize, hilft  zu sensibilisieren, um die gesteckten Ziele auch zu erreichen.

 

 

 

Soziale Kompetenz als vierte Ebene und Fähigkeit ,heisst soviel wie soziale Kontakte bewusst zu pflegen und sie vorallem zu behalten und sich ein Netzwerk- eben nicht nur digital- aufzubauen.

 

 

 

Empathische Menschen sind in der Lage sich in Emotionen und Situationen anderer Menschen hineinzuversetzen. Es geht dabei immer um den Aufbau gegenseitigen Vertrauens, Respekt und Wertschätzung : Das heisst es Empathie zu leben.

 

 

Die Empathiefähigkeit ist  enorm eingeschränkt.

Betrachtet man die Alexithymie unter diesen fünf Perspektiven der Emotionalen Intelligenz wird schnell klar, wie unendlich schwierig es für einen gefühlsblinden Menschen sein muss, sich auf andere gefühlsmäßig einzulassen, da er  auch eigene Zustände keinem Gefühl zuordnen kann und selbst zu wenig über sich weiß, da er ja auch nie die Selbstreflexion ausreichend kennengelernt hat. Er kann sich manches ritualisiert aneignen, aber ohne wesentliche  innere Beteiligung und Leidenschaft. Eher die nahen sozialen Partner und das nähere Umfeld bermerken dieses Defizit mangelnder innerer Motivation und Begeisterungsfähigkeit als Mangel, während der alexithyme Mensch selbst weniger darunter zu leiden scheint, weil ihm schliesslich ein Bewusstsein dafür fehlt. Äussere Motivationsfaktoren wie Geld, Ansehen, Reputation, Erfolg und Macht gleichen den inneren Gefühlsmangel oberflächlich aus, aber ersetzen leider für die intime Beziehungsebene die  fehlenden, tiefen Gefühle nicht .Die Empathiefähigkeit ist eben enorm eingeschränkt.

 

Mögliche Ursachen einer stark ausgeprägten Alexithymie.

Ein alexithymer Mensch hat ursächlich vielleicht selbst Eltern oder ein Elternteil erlebt, die möglichweise ebenso eine Gefühlsblindheit hatten und konnte deshalb nicht alle Entwicklungsschritte durchlaufen, weil bereits früh die Interaktion zwischen ihm und den Bezugspersonen gestört oder behindert war.

 

Eltern die selbst an Alexithymie oder auch an einer schweren Depression gelitten haben, konnten vermutlich selbst auch zu wenige Erklärungen für Emotionen abgeben. Oder es mangelte an passenden Ausdrücken, um Gefühle für sich selbst und andere zu benennen.

 

In manchen Fällen entsteht eine schwere Gefühlsblindheit auch durch ein labiles Elternhaus mit wenig sozialer Interaktion, oft wechselnden Bezugspersonen, vielleicht auch mit einem alkoholkranken bzw. drogenkranken oder psychisch kranken Elternteil, welches nicht angemessen emotional und nur reduziert auf das Kind reagieren konnte.

 

 

Und schliesslich sollte erwähnt werden, dass Gefühlsblindheit auch eine Art Schutzmechanismus sein kann, mit dem sich ein Mensch, der massive negative Gefühle erlebt hat, unbewusst abschirmt.  Das Gefühlsleben von Menschen kann quasi verschüttet  oder eingefroren und traumatisiert sein, wenn reale schreckliche Erlebnisse traumatisch im Unterbewusstsein arbeiten und nicht an die Oberfläche dringen sollen.

 

 

Alexithymie und Therapie ?

Alexythymie ist ein gar nicht so seltenes Phänomen in meiner psychotherapeutischen Praxis und begegnet mir sowohl einzeltherapeutisch als auch in der Paartherapie mit einem oft verzweifelten, vereinsamten und einem sehr häufig depressiv reagierenden Partner oder Partnerin. Ein gefühlsblinder Partner ist faktisch emotional nur schwer erreichbar und therapeutisch ebenfalls schwer ansprechbar, da die Selbstreflexion meist gering eingeübt wurde.

 

Für einen gefühlvollen, empathischen Beziehungspartner ist die Alexithymie  ein absolut herausforderndes Kontrastprogramm und wird entsprechend konflikthaft erlebt. Manchmal hilft nur die radikale Trennung ! In einem entsprechenden Test kann in der Praxis die Alexithymie getestet werden und in die weitere Beziehungsarbeit mit dem Einzelnen oder dem Paar einfließen.

 

Abschliessend sei erwähnt, dass alexithyme Menschen mit körpertherapeutischen Methoden zum Selbsterleben angeregt werden können, ebenfalls mit Kunst- oder Tanztherapie und nicht nur mit verbalen Verfahren der Gesprächstherapie. Die Uniklinken Greifswald und Mainz verfügen beispielsweise über Experten zu dem Thema der schweren Gefühlsblindheit.

 

Alexithymie auch als „Vorteil“ bei manchen Tätigkeiten.

Und wie ich schon an anderer Stelle erwähnte, ist die Alexithymie bei manchen Tätigkeiten sogar von Vorteil, abgesehen vom klassischen Pokerspieler, der damit natürlich einen unübersehbaren Vorteil hat.

 

Aber auch manche(r)Forscher*in,Wissenschaftler*in, Entwickler*in, Software-Nerd, Betriebs-oder Wirtschaftsprüfer*in, Jurist*in oder auch Steuerfahnder*in, Kriminalkommissar*in, oder cooler Fußballtrainer*in, Berater*in, Banker,*in Börsenmakler,*in Mediziner*in, Pilot*in, Zugführer*in, Mathematiker*in, Informatiker*in oder vielleicht auch mancher Ingenieur oder Ingenieurin, können die eigene Coolness auch häufig positiv nutzen, zumal es immer auf den Ausprägungsgrad, also auf die Schwere der Alexithymie- Symptome ankommt.

Schwere Ausmaße einer Alexithymie sind meist sehr beziehungsfeindlich und gehören immer in psychiatrisch-psychologische Expertenhände .

 

 

 

 

 

 

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